Kultur

Theatertipp: Eine Familie (August: Osage County)

Szene aus dem Theaterstück `Eine Familie` (Photo: M. Hörnschemeyer)
Szene aus dem Theaterstück `Eine Familie` (Photo: M. Hörnschemeyer)

Dekonstruktion beim Leichenschmaus

Schon Goethe wusste „Zu Zeiten der Not bedarf man seiner Verwandten“. Familie hat jeder. Keiner entkommt ihr. Und manchmal ist das auch gut so. Auf den Theaterbühnen haben Familiengeschichten eine lange Tradition. Damit kann sich Tracy Letts preisgekröntes Familiendrama einreihen in eine lange Reihe von Familiendramen im Stile von Tennesse Williams, Tschechow oder Ibsen. Die Grundidee von der desaströsen Familienzusammenkunft ist nicht neu. Tracy Letts Drama „Eine Familie“, in Deutschland uraufgeführt am 31.10.2008 von Burkhard Kosminski in Mannheim, hat aber den großen Vorteil, ganz aktuell zu sein und die Themen unserer Zeit aufzunehmen.

In den USA war „August: Osage County“, so der Originaltitel, ein Sensationserfolg und räumte bis zum Pulitzerpreis alle nur denkbaren Auszeichnungen ab. Wenig später tourte das Stück durch Europa, Mannheim, Wien, Basel, Berlin, etc. An den Städtischen Bühnen in Münster hat sich Markus Kopf des Stückes angenommen. Und Kopf lässt erst einmal alles Unwichtige weg. Der Regisseur kürzt, wo er kürzen kann und das gleich zu Beginn. So zum Beispiel den Prolog der Hauptfigur, um die es in den nächsten drei Stunden gehen soll: Raus mit Beverly Weston, einem früheren Dichter und Hochschullehrer, jetzt pensionierter und selbsternannter Vollzeitalkoholiker.

Kopf hat erkannt, dass dieser Abend den Frauen gehört. Und so beginnt das Stück bei ihm im Haus der Westons, nachdem sich der Patriarch aus dem Staube gemacht hat. Bühnen- und Kostümbildnerin Kerstin Bayer hat das Kleine Haus an den Städtischen Bühnen samt Zuschaueremporen in ein zweigeschossiges Familienhaus im Südstaatenlook verwandelt. Wohnzimmer, Küche und die Schlafzimmer sind weiß möbliert und angeschliffen und bis hin zu Kühlschrank und funktionstüchtigem Fernseher ausgestattet. Es gibt vier Schauplätze. Im Wechsel beleuchtet die Lichtregie einzelne Szenen in den Wohnräumen.

Der Patriarch ist fort und die verlassene Mutter ruft. Und sie kommen alle: Los geht es mit der zweitältesten Weston-Tochter Mattie Fae (großartig asozial: Regine Andratsche), die nicht nur ihren Mann Charlie (wie immer souverän: Wolf-Dieter Kabler) kommandiert. Ketterauchend wird sie an diesem Abend nur zwei Aufgaben haben: Sich Sorgen um ihre Mutter machen und wenig später ein Geheimnis ausplaudern, das die Familie in ihren Grundfesten erschüttert. Um den Hauhalt kümmert sich in dieser aufgeladenen und von Sorge erfüllten Atmosphäre die Indianerin Johnna (Judith Patzelt, bekannt aus dem Bühnen-Erfolg Pipi Langstrumpf), die nur wenig Text hat und ab und zu den passenden Tears for Fears Klassiker „Mad World“ anstimmen darf.

Klare Hauptperson des Abends ist jedoch die ebenfalls kettenrauchende Violet (herausragend, zwischen Leid und Wut, Arroganz und Schwäche: Cornelia Niemann), verlassene Ehefrau und Mutter der drei Weston-Töchter. Violet schart nach dem Abgang des Ehemanns nicht nur ihre Töchter und ihre Schwester samt Anhang um sich, sondern auch eine ganze Menge Boshaftigkeit, gekränkte Eitelkeit und Verleumdungen. Denn wer hier an ein harmonisches Wiedersehen im Kreise der Familie denkt, liegt völlig falsch. Bereits mit dem ersten Dialog mit ihrer Schwester Ivy (schüchtern aber entschlossen: Christiane Hagedorn) wird deutlich, wie viel Boshaftigkeit und verletzter Stolz in Violet brodeln.

Nur wenig später komplettieren die älteste Tochter Barbara (atemberaubend zynisch, ungeduldig und aufbrausend: Carola von Seckendorff) samt Ehemann und verzogener Tochter, sowie Nesthäkchen Karen (Carolin M. Wirth) mit ihrem Verlobten im Schlepptau das Ensemble. Es ist ein Kommen und Gehen. Scheinwerfer aus, Spot an. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche. Das Ensemble, zu Beginn noch verhalten harmonisch, fährt im weiteren Verlauf die Krallen aus. Und es gibt Sieger und Besiegte. Da Violet als mater familias einigermassen nüchtern ist, sind ihre Krallen besonders scharf. Mit untrüglichem Instinkt spürt sie jede noch so gut versteckte Wunde auf, um darin zu bohren. Die Situation eskaliert beim Leichenmahl, denn der Patriarch wird tot aufgefunden. Der Festakt endet in einer Rauferei.

Als einzige gelingt es Barbara, die stärkste von den drei Weston-Schwestern, ihrer verletzten Mutter Paroli zu bieten. Sie übernimmt das Kommando und die stark tablettenabhängige Mutter wird auf Entzug gesetzt. Barbara wird jedoch im Kampf gegen ihre Mutter wenig später die Waffen strecken und die Nerven verlieren. Die Frauen und Männer der Familie Weston, so unterschiedlich die Charaktere, so unterschiedlich sind auch ihre Kostüme. Moderne Kleider, Anzüge, gemusterte Schlafanzüge. In diesen variantenreichen Outfits wird diskutiert, gestritten, geschimpft und beleidigt.

Es ist ein Fest für die Darsteller. Und Markus Kopf dokumentiert, wie sich die Familie Stück für Stück zerlegt. Tracy Lett bietet ihm mit seinem genialen wie impertinenten Drama eine hervorragende Grundlage für diese Dekonstruktion. Stets auf die Pointe gebürstet, einer bissigen Soap-Opera nicht unähnlich. Das Ensemblestück gibt jedem Schauspieler und jeder Schauspielerin so viel Zucker, dass er daran eigentlich ersticken müsste – und der Zuschauer mit ihm. Denn unglückliche Familien sind dramaturgisch äußerst nahrhaft und bekannt aus Film und Fernsehen: Man kommt zusammen – vorzugsweise für eine Feier – betrinkt sich, rivalisiert, geht fremd, fördert unliebsame Wahrheiten zu Tage und bohrt anschließend in den Wunden. Den Darsteller und die Darstellerin freut´s, denn er/sie kann die kleinen Reinkarnationen des Abends ausleben und ausspielen.

Am besten gelang dies Cornelia Niemann in der Rolle der boshaften Mutter Violet und Carola von Seckendorff in der Rolle der Tochter Barbara. Sie kosten ihre Rolle so ostentativ aus, als seien sie auf einer Solo-Performance. Stehende Ovationen, der verdiente Lohn. Ihr Dank müsste vor allem an den Regisseur des Stückes gehen, an Markus Kopf, der seinen Darstellern und vor allem seinen Darstellerinnen sehr viel Raum zur Verfügung stellte. Darstellerischen wie auch geographischen Raum. Denn die Aufführung in Münster muss zwar ohne Prolog, Videoprojektion und sonstigen Spielereien auskommen, bietet aber mit der zweistöckigen Anordnung der verwinkelten Bühne im kleinen Haus den perfekten Nährboden für die kleinen, fiesen Pointen, die bei Kopfs Inszenierung manchmal harrscharf am Rand der Sitcom-Falle tappen.

„Eine Familie“ wird in Münster noch an drei weiteren Terminen zu sehen sein: Am 22. Februar, am 06. März und am 14. Aprl 2011.

Informationen dazu finden Sie auf der Seite der Städtischen Bühnen Münster