Für Nebbou, der auch das Drehbuch zu „So wie Du mich willst“ schrieb (nach einer Romanvorlage von Camille Laurens), verkörpert „la Binoche“, wie sie in Frankreich ehrfurchtsvoll genannt wird, eine geschiedene Literaturdozentin Anfang/Mitte 50. Claire ist zudem Mutter zweier pubertierender Söhne. Sie hat eine nach eigener Aussage glückliche, über 20-jährige Ehe hinter sich und wurde unlängst von ihrem Mann verlassen – wegen einer jüngeren. Mit einer ebenso deutlich jüngeren Affäre versucht Claire nun, ihr Ego wieder aufzupäppeln. Was aber nur in Ansätzen gelingt, weil ihr Ludo (Guillaume Gouix), ein Bauingenieur, an mehr als an gelegentlichen Sex-Dates kaum interessiert ist. Was also tun? Weil die Liebe zu Ludo doch ernster zu sein scheint, als ihr vielleicht lieb ist, nähert sich Claire ihrer Affäre auf anderem Wege – online.
Mit einem Fake-Profil meldet sich Claire bei Facebook an. Sie wählt den klangvollen Namen Clara Antunés, geboren im Februar 1993. Und um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, schickt sie zunächst eine Freundschaftsanfrage nicht an Ludo sondern an seinen aktuellen Mitbewohner Alex, einen Fotographen. Dieser (Francois Civil) ist von den Komplimenten der hübschen, vermeintlich 25-jährigen Clara angetan. Es entwickelt sich ein Online-Flirt, der zunehmend ernster wird. Mit dem Medium-Wechsel vom oberflächlichen Online-Portal zum sehr viel privateren Mobiltelefon (ihres Sohnes) scheint die Intention von Claire, ihrer Affäre Ludo näher kommen zu wollen, vollends verschwunden zu sein. Sie schickt ihrer neuen Eroberung Alex sogar ein Foto ihrer 24-jährigen Nichte als Beleg für die Existenz von Clara.
, möchte Clara ein Treffen am Bahnhof. Beide erscheinen – er erkennt sie aber nicht, weil er nach einer 25-jährigen Clara Ausschau hält, die Claire zwangsläufig nicht (mehr) ist. Als beide auf dem Bahnsteig spürbar nebeneinander stehen, kreist die erfahrene Kamera von Gilles Porte um die Protagonisten wie um ein begehrtes Messe-Ausstellungsstück. So viele Gefühle transportiert diese Kamerafahrt, Freude, Erwartung, Enttäuschung, Hoffnung – doch ohne Eruption, nichts geschieht. Claire bringt es nicht übers Herz, ihrem Alex die Wahrheit zu sagen.
Frauen und ihre Sehnsucht. Ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit, ihre Suche nach Identität, das sind die immer wiederkehrenden, essentiellen Bestandteile, die Juliette Binoche in ihren Filmfiguren erkennen muss. Stereotype interessieren sie nicht. Das hatte sie mal in einem Interview gesagt. Sind diese Mindestanforderungen nicht vorhanden, sage sie sogar Rollen in großen Hollywood-Filmen von Spielberg und Co. ab. La Binoche. Einfach soll sie nicht sein. Aber einfach will sie auch gar nicht sein. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wechselt sie auch hier von der Leidenschaft zur Lächerlichkeit, von der ätherisch-elitären Schönheit zu ordinärer Erdverbundenheit. Ohne Zweifel verkörpert sie die geschiedene Literaturdozentin, Mutter, Liebhaberin und verzweifelte Frau auf der Suche nach Liebe mit einer Leichtigkeit, die einen sprachlos macht.
Da hätte es der angegrauten Haare der Maskenbildnerin gar nicht gebraucht. Jede Szene und jede Aufmerksamkeit schenkt Safy Nebbou seiner Hauptdarstellerin. Und Juliette Binoche dankt es ihrem Regisseur mit der ganzen Bandbreite, in diesem Fall Stärke, Verletzlichkeit und Kaltschnäuzigkeit ihres Könnens. Bis zu ihrem 80. Spielfilm vor der Kamera wird der Name der Regisseure, mit dem Juliette Binoche erfolgreich zusammengearbeitet hat noch öfter Safy Nebbou lauten. Dessen darf man sich sicher sein.