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Filmkritik „Visages, Villages – Augenblicke: Gesichter einer Reise“

Szene aus der Dokumentation Visages Villages - Augenblicke: Gesichter einer Reise mit Agnès Varda und JR.

Wer wen zuerst kontaktiert hat, daraus machen alle Beteiligten ein großes Geheimnis. Aber die Frage nach ihrem Kennenlernen, die wird ihnen auf ihrer Reise öfter gestellt. „Wir haben uns auf einem Dating-Portal kennengelernt“ scherzt dann irgendwann der französische Streetart-Künstler JR, der daraufhin prompt von seiner Begleitung Agnès Varda korrigiert wird. „Nein, ich habe deine großen Augen(-Fotos, Anm.d.Red.) auf den Kühltürmen gesehen. Und ich fand das wirklich toll.“ Ungewöhnlich ist es schon, das porträtierte Paar, das von Kameras begleitet zusammen im alten umgebauten Mercedes Sprinter über die Lande reist und einigen Bewohnern der Region mit übergroßen Fotos ein Denkmal setzt. Aber so oder so ähnlich muss es wohl gewesen sein: Kurz vor ihrem 90. Geburtstag, so lässt es sich herauslesen, wollte die belgische Regie-Ikone Agnès Varda unbedingt die Arbeit des französischen Künstlers JR kennenlernen, der die von ihm bewunderte Regisseurin daraufhin prompt auf eine Reise in seinem umgebauten Fotostudio einlud.

Ein Projekt zweier Ausnahmekünstler

Was wie ein Zusammentreffen zweier Prominenter aus der ARTE-Dokumentarfilm-Serie „Durch die Nacht mit …“ anmutet, ist ein bewußt initiertes Projekt zweier Ausnahmekünstler, die eines gemeinsam haben: Ein großes Interesse an Menschen und ihren Geschichten. So steigen die kleine Nouvelle Vague-Ikone und der schlacksige, sonnenbebrillte Fotograph in einen umgebauten Mercedes und stellen dabei weniger sich selbst oder ihre Gespräche in den Vordergrund, sondern vielmehr das französische Hinterland und ihre Bewohner.

Spontane Assoziationen, Spleens und intime Erinnerungen bestimmen dennoch diese unterhaltsame Reise. Inmitten der Wandbilder, die fast beiläufig zwischendurch entstehen, ist Varda natürlich die eigentliche Ikone. Was nicht unnarzisstisch ist, aber sehr berührend. Doch bis zum Ende ist der Respekt, den beide ihrem Gegenüber entgegenbringen, in jeder Sekunde fühlbar.

Kunst an allen Orten

Überall, wo das ungewöhnliche Duo auftaucht, hinterlässt es große Kunst. An verschiedenen Stationen platziert JR seine auf Fotografien basierenden riesigen Wandtapeten. Unklar wie die Initialzündung zu diesem Aufeinandertreffen bleibt auch, wer die Ideen zu den Installationen oder vielmehr zu den porträtierten Personen hatte. Unwichtig. Während der schlaksige Franzose seine Fototapeten auf Getreidetürmen und Firmenwänden vorbereitet, dokumentiert Varda die Geschichte hinter den Motiven; genauso wie ihre sich entwickelnde Freundschaft zu JR. Denn die inzwischen 90-Jährige und der Mann, der ihr Enkel sein könnte – das wird schnell klar – verbindet auf ihrer Reise mehr als nur die Kunst.

Mit Künstlern auf Augenhöhe

Mit dieser Zusammenarbeit finden zwei Künstler einen einzigartigen Zugang, um Menschen und Lebendigkeit in den entlegensten Gegenden zu entdecken: Streetart-Installationen gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit. Ziele, die die augenscheinlich so verschiedenen und doch so gleichdenkenden Künstler seit Beginn ihrer Karrieren auf unterschiedliche Weise verfolgt hatten und die in dieser wunderschönen Dokumentation als Team ihre Vollendung finden. Und so entwickelt sich, ähnlich wie in Corinna Belz sehenswerter Künstlerdoku „Gerhard Richter Painting“ in der liebenswert offenen und unkomplizierten Art selbst große Kunst, die bis zum Ende der kurzweiligen 88 Minuten ganz einfach glücklich macht. Ein sehr berührendes Meisterwerk.